Aus dem jahre 2013 und aus Polen stammt eine der wunderbarsten Tragikkomödien, die ich in den letzten jahren gesehen habe.
Mateusz (als Kind Tamil Ktacz, als junger Erwachsener Dawid Ogrodnik) leidet an einer cerebralen Bewegungstörung, die es ihm unmöglich macht, zu sprechen und sich gehend fortzubewegen, er windet sich auf dem Rücken liegend Kopf voran über das Parkett und kann so auch auf zum Beispiel ein Sofa robben. Er muss gefüttert werden, und außer seiner älteren Schwester (die "zur Strafe" später vom Ehemann mit 2 Kindern sitzen gelassen wird), behandeln ihn seine Eltern und sein etwas älterer Bruder liebe- und respektvoll. Die Mutter umsorgt ihn, der Vater erklärt ihm die Sterne , was es heißt , ein Mann zu sein, der Bruder tobt mit ihm auch draußen herum, saust mit ihm als Maradonna im Rollstuhl über den Rasen und kommentiert begeistert seine Ballartistik. Mateusz ist fasziniert von den Sternen und von Frauenbrüsten, je größer, desto höher die Punktzahl auf einer Skala von 1-10.
Auf der Fensterbank sitzend beobachtet er das Leben draußen und im Haus gegenüber, besonders eine mittelalte Frau mit wechselndem Männerbesuch und ein Mädchen in ungefähr seinem Alter, mit dem er auch etwas Kontakt bekommt und die ihn mit dem Rollstuhl durch die Stadt schiebt.
Leider verschwindet sie aus familiären Gründen aus seinem Leben. Der Vater verstirbt durch einen tragischen Sturz vom Baugerüst vor dem Hause während eines Feuerwerkes ."Mein Vater ist ein Zauberer, der die Sterne explodieren lassen kann." hören wir Mateusz als Erzählerstimme.
Als der Bruder zur See fährt und Mateusz zunehmend größer und schwerer wird, muss die Mutter in schweren Herzens weggeben, er kommt in ein Heim für geistig Behinderte.
"Gemüse" nennt ihn seine Schwester abschätzig, zum Entsetzen der Mutter, und wie muss Mateusz sich fühlen? Er ist ganz und gar nicht geistig behindert, seine Eltern und der Bruder behandeln ihn auch nicht wie einen Idioten (das Schimpfwort ist eigentlich der Fachausdruck für einen schwerst geistig Behinderten ;debil > imbezil > idiotisch), sie sptrechen normal mit ihm, nicht in Baby-Sprache, sein Weltbild und seine Kenntnisse über die Umgebung, in der er lebt, sind besonders geprägt durch die Erläuterungen des einfachen, aber liebevollen Vaters, der ihm zeigt, dass ein Mann auch mal mit der Faust auf den Tisch hauen muss (wie Mateusz später vor einer Kommission, die seine Intelligenz beurteilen soll, eindrucksvoll demonstriert).
Intelligenz und Verständnis traut man ihm auch im Heim nicht zu, behandelt ihn aber nicht gewollt grausam. Eine Betreuerin, die ihn im Liegen füttert, worauf er sich immer die Lippen zerbeißt, sodass ihm 4 obere Schneidezähne gezogen werden, weiß es nicht besser und ist eher ungeeignet als böse.
Erst eine junge hübsche Praktikantin hat den Eindruck, dass Mateusz sehr wohl versteht, Mateusz revidiert seine Einstufung der Frauen nach der Körbchengröße des BHs, und die beiden verbindet bald ein liebevoll freundschaftliches Verhältnis. Doch nach einem Eklat auf einer Geburtstagsfeier ihres Vaters, den die junge Fraunicht zum ersten Mal provoziert, verschwindet sie sang- und klanglos aus seinem Leben.
Erst Jahre später erkennt eine ältere Therapeutin, die mit einem Behinderten über Symboltafeln zu kommunizieren versucht, Mateusz' Potential, sein Leben als "Gemüse" ist vorbei.
Als Mateusz bald darauf auf in eine weit entfernt liegende Einrichtung für nur körperlich Behinderte verlegt werden soll, verhindert er das eindrucksvoll mit Intelligenz und einer für seine körperliche Beeinträchtigung sensationelle Leistung.
Wie hat man einen schweren Tetraspastiker dazu bewgen können, Mateusz zu spielen? Die Antwort holt uns förmlich aus den Socken: nach Ende des Filme sehen wit einen freundlich und glücklich lächelnden körperlich Mann im Rollstuhl, das Vorbild für die Filmfigur, neben ihm - Dawid Ogrodnik, den Darsteller des Mateusz, als jungen, völlig normaler Mann. Wir können kaum glauben, dass er Mateusz verkörperte, merkwürdig grimassierend, unartikulierte Laute ausstoßend, in Rückenlage sich über den Boden windend, mit nur unwesentlich für das Vorankommen unkoordinierten Bewegungen der Extremitäten, bewundernswert grotesken Hand- und Fingerhaltungen. So großartig Eddie Redmayne's Spiel des zunehmend bewegungseingeschränkten Stephen Hawking war, Ogrodniks fast artistische Bewegungsabläufe und auch das Minenspiel sind eine Leistung, die wir derart wohl kaum je gesehen haben und muss uns größte Bewunderung abringen, und das gilt auch für den 12jährigen Darsteller des Mateusz als Kind. Die Darstellung von Ogrodnik machte mich fast fasuungslos, ein unvergessliches Filmerlebnis.
Der Film ist dramatisch, aber auch optimistisch und bietet auch genügend Gelegenheit zum Schmunzeln, wir kichern nicht über die Behinderung, sondern zum Beispiel die Erklärungen , die der Vater seinem geliebten Sohn über das Leben und physikalische Phänomene liefert, über Mateusz' Kommentare aus dem off, besonders über weibliche Attribute und seine Erkenntnis, das nicht die Größe des Busens eine Frau ausmacht, als er die Praktikantin kennenlernt.
Einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt, auch bei Mitrezensenten, die junge Praktikantin. Sie scheint zunächst einfühlsam, bemerkt als Erste, dass Mateusz sehr wohl versteht und nicht Gemüse im Kopf hat, behandelt ihn regelrecht liebevoll. In Kenntnis seiner Liebe zu tiefen Dekolletées und in Magazinen dessen, was die Ausschnitte nicht völlig entblößen, zeigt sie ihm ihren hübschen kleinen Busen. Ist das glaubwürdig Zuneigung, Mitleid mit dem jungen Mann? Ich hatte in der Szene nicht den Eindruck, dass das nur eiskalte Berechnung und Vorbereitung von Mateusz auf seine Instrumentalisierung als Provokationsfigur bei dem peinlichen Auftritt bei Papas Geburtstagsfeier war, eine Szene, die die Teilnehmer mit mehr Haltung geschehen lassen als sich die junge Frau das vielleicht gewünscht hat. Vielleicht war es aber auch ein spontaner, kurzfristiger dummer Entschluss, und ihr abruptes Verschwinden aus dem Heim ein Ausdruck tiefer Scham, jeder mag das anders interpretieren.
Zusammenfassend betrachte ich den Film als einen wunderbar gelungenen Appell, Behinderte würdevoll zu behaupten und nie davon auszugehen, dass sie nichts verstehen, und nicht despektierlich über sie zu sprechen, schon gar nicht in ihrer Anwesenheit. Wir können uns gut vorstellen, wie sehr der mindestens normal intelligente Mateusz Jahrzehnte gelitten hat, weil er nicht kommunizieren konnte und mitteilen, was in seinem Kopf vorgeht. Mit der liebevollen Familie außer der Schwester hat er noch Glück gehabt, und welch beglückende Erfahrung durfte er dank der Therapeutin machen, die ihm einen Weg geöffnet hat, zu zeigen, was in ihm steckt.
Die Darstellung von Mateusz sowohl durch Tamil Tkacz als besonders auch durch Dawid Ogrodnik gehört zum BEEINDRUCKENDSTEN, das die Kinoleinwand schauspielerisch je gezeigt hat. Was ist dagegen jeder Film mit mehrstelligem Millionenbudget und sensationsheischenden Computeranimationen von meistens sowieso unglaubwürdigen Spektakeln?
Doc Halliday